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Die Entschlüsselung des körperlichen Landschaftsblickes  
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Ein am 18.2.2006 im Künstlermuseum Heikendorf in der Ausstellung "Plöner Landschaften-HEUTE" gehaltenes KünstlerVortragsGespräch - trotz des mysteriösen Titels war die Veranstaltung überdurchschnittlich gut besucht.

Hier eine kurze Zusammenfassung der dort vorgetragenen Überlegungen (Achtung, etwas sperriger Text):

     
   

Aus der Sicht eines Malers, der nicht alles als selbstverständlich hinnehmen will, wird das Sehen einer Landschaft durch das Betrachten einer mit Farbmaterial bedeckten Holztafel zur Frage nach der Wahrnehmung, der Wirklichkeit, der Welt! Welche Aspekte verbergen sich in unserer Wahrnehmung eines Landschaftsgemäldes? Offensichtliche aber auch unbeachtete Hinweise sprechen dafür, daß diese Wahrnehmung nicht allein Sache des Sehsinns ist.

1.Teil -:- Blick

Wie kommt es überhaupt dazu, daß wir wahrnehmen? (dieses Fragefeld ist nach wie vor offen, weder philosophisch noch wahrnehmungsphysiologisch oder neurobiologisch gibt es dafür eine vollständige Erklärungslösung!) Irgendetwas reizt unsere Nerven oder Rezeptoren, die dann einen modifizierten Impuls bis in unser Gehirn schicken, der dort dann für die Wahrnehmung verantwortlich gemacht wird. Licht fällt durch unser Auge, reizt Stäbchen und Zäpfchen und wird vom Sehnerven weitergeleitet; wie, wo und auf welche Weise dann soetwas wie eine Bildwahrnehmung entsteht wissen wir nicht. Ebenso läuft der Vorgang ab, wenn wir etwas in die Hand nehmen: Etwas löst in unseren Nerven chemische und elektrische Impulse aus, die weitergeleitet werden und die Wahrnehmung von Wärme, Schwere, Härte bewirken. Denn unstrittig ist ja, daß nicht die brennende Kerze durch die Augen oder die Haut in uns aufgenommen wird, sondern ihr Licht löst einen Vorgang aus und die Wärme löst einen Vorgang aus, der schlußendlich als brennende Kerze "übersetzt" wird. Bildlich gesprochen sind wir also wie ein Raum, in den durch mysteriöse Boten Zettel gereicht werden, auf denen Beschreibungen oder Zeichnungen von großen, grünen, rauhrindigen Bäumen oder roten, glänzenden, kugeligen Autos sind. Denn diese Boten bringen eben nicht Bäume oder Autos in den Raum! Aufgrund ihrer Botschaften machen wir uns dann ein Bild von der Welt; wie die Dinge außerhalb von uns wirklich sind, wissen wir nicht und können es auch nicht wissen - alles ist immer (nur) unsere eigene Sicht von den Dingen.

Mit der Ausformulierung in philosophischer Hinsicht verursachte damit Immanuel Kant einen denkerischen Erdrutsch, der sich aber auch schon in unserem Sprachgebrauch lange vorher abgezeichnet hat, aber heute nicht mehr unmittelbar zugänglich ist: Wenn wir von Wirklichkeit reden, meinen wir die außerhalb von uns real vorhandene Welt. Über diese Wirklichkeit können wir aber nach Kant oder nach der vorangegangenen kurzen Bewußtmachung unserer Sinneswahrnehmungen eben nichts aussagen - die Wirklichkeit ist also nicht das, was wirklich außerhalb von uns ist, sondern das, was wir aus unseren Sinnesinformationen zusammenweben und nach draußen projizieren. Und genau dieser Vorgang steckt in der ursprünglichen Bedeutung von Wirklichkeit: wirken geht zurück auf Werk (engl. work), was "mit Flechtwerk umgeben, flechten" meint - noch spürbar in dem gewirkten Gewand. Angewandt auf das frühzeitliche Dorf: es ist umgeben von einem schützenden, vom Menschen selbst hergestellten Flechtwerk, welches die Bewohner von den Gefahren der Wildnis abgrenzt und gleichzeitig die überschaubare, selbstgeschaffene Dorfstruktur begrenzt.

..wir wirken also unsere Wirklichkeit selber, die uns wie ein Flechtwerk umgibt und die uns aber auch abgrenzt von der Möglichkeit etwas von den "Dingen außerhalb von uns" zu wissen - weil wir eben nur unsere Wahrnehmungen von ihnen haben - diese Wahrnehmungen aber setzen wir anstelle der Dinge und tun so, als ob unsere Wahrnehmungen in uns die Welt da draußen wären - wir wirken unsere Wirklichkeit selber!

Diese Sichtweise oder (philosophische) Fragestellung steht natürlich in krassem Gegensatz zur alltäglichen Erfahrung mit unserer Umgebung, die ja funktioniert (durch die Wunder der Evolution?) und uns überleben läßt. In unserem Alltag wäre es sogar gefährlich ständig und immerzu unsere Wahrnehmung und ihre Beziehung zu den Dingen außerhalb von uns in Frage zu stellen! (Augen auf im Straßenverkehr!)

Der vom alltäglichen abgesonderte Raum aber, zum Beispiel bei der Betrachtung eines Gemäldes, oder beim Lesen verquickter Texte am Computer, darf es ruhig ermöglichen allerlei zu fragen oder scheinbar selbstverständliches in Frage zu stellen!

..der Schlenker zur Sprachbetrachtung verdeutlicht noch weiteres: genauso wie beim Beispiel der "Wirklichkeit", an dem nachvollziehbar wurde, wie für uns uralte Lebensstrukturen in Worten aufgehoben sind und unerwarteterweise neue Sichtweisen offenbaren - genauso zeigt die Sprache (verständlicherweise) ein ursprünglich körperlich geprägtes Weltbild: wir begreifen, wir verstehen, wenn wir von rationalen und abstrakten Vorgängen sprechen, und wir gebrauchen den Verstand!

Nun, was meinen wir aber, wenn wir sagen, wir begreifen das Bild? Erstaunlicherweise kommt hier ein weiteres Phänomen ans Licht:

 
     
     
     
     
   

Was sehen wir hier?

- eine moorige Mooslandschaft, - eine sonnige Waldlichtung, - Figuren im Gegenlicht? Das sind die Antworten, die gegeben werden; aber eigentlich müßte, wenn man dieses Bild hochhält oder auf es deutet, wenn es an der Wand hängt, gesagt werden: "Ich sehe eine Holztafel, die mit unterschiedlichem Farbmaterial bedeckt ist und die sich wie Baumrinde anfühlen wird, wenn ich mit der Hand darüber streichen würde."

 
     
   

Wie kommt es, daß wir nicht Farbmaterie sehen, sondern zum Beispiel eine Landschaft? Oder wenn wir im Kino sitzen, sehen wir auch eine Person, die sich ins Zimmer schleicht und wir erschrecken über unerwartete Begebenheiten und fiebern mit; und niemand geht ins Kino um unterschiedliche Lichtflecken zu beobachten und zu verfolgen, wie sie sich in Farbe und Ausdehnung ändern und über die Projektionsleinwand wandern.

Der Blick ist also doppelt rätselhaft: Zum einen stellen wir mit unserer selbstgemachten Wirklichkeit etwas von uns "innen" nach "draußen" und glauben, daß das "draußen" sich auch so verhält, zum anderen ordnen wir das, was wir "draußen" sehen neu und auf eine Weise an, daß wir eben nicht mehr sehen, was zu sehen ist (Holz, Farbmaterie), sondern wir sehen etwas, was gar nicht da ist (z.B. eine warm-sommerliche weite Hügellandschaft unter hellem Abendhimmel)!

Läßt sich anhand der Malerei untersuchen, wie wir aus einzelnen Elementen einen neuen strukturellen Zusammenhang herstellen, aus unterschiedlicher Farbmaterie stellen wir zum Beispiel den neuen strukturellen Zusammenhang eines "Blickes in eine Landschaft" her?

Ist das Bildwerk damit ganz allgemein gesprochen ein "Bild" unserer Wahrnehmung?

Dann wäre gerade das Landschaftsbild ein "Bild" unseres Sehens, da Landschaft gesehen aber nicht angefaßt werden kann. Beim Portrait oder dem Stilleben geht es um Dinge, Gegenstände oder Personen, die greifbar, betastbar sind. Einen Baum können wir zwar anfassen, aber nicht einen Wald, oder einen See oder Himmel und Wolken.

Mit diesem komplexen Inhalt vermittelt ein Landschaftsgemälde auch ohne (anscheinend) lesbare Symbole und Zeichen, wie wir sie in den anderen Themenbereichen der Malerei finden, grundlegende "Botschaften", die auch vom uralten rätselhaften Phänomen der Malerei künden!

 
     
   
   

2.Teil -:- LandschaftsBlick

Warum entwickelte sich aber das Themenfeld der Landschaftsmalerei, was ja erst relativ spät geschah? - Vielleicht ein ganz wichtiger Aspekt ist, daß die Landschaft durch geänderte Lebensumstände frei zum Betrachten wurde: war das umgebende Land vorher Ackerland oder Jagd- und Sammelgebiet zur Nahrungsbeschaffung oder auch zur Materialbeschaffung für Unterkünfte, Schutz, Werkzeug und Waffen, so wurde die Landschaft zur Landschaft, die durchwandert, durchreist, durchritten werden konnte! Die Wanderungen zur Zeit der Romantik schwingen immer noch in unseren Sonntagnachmittagsspaziergängen mit und auch in den schönen, idyllischen Urlaubsansichten. Was im Zusammenhang mit den Gedanken über einen körperlichen Landschaftsblick dabei wichtig ist, ist das umfassende Gefühl einer Wanderung: mit der körperlichen Bewegung, dem Atmen von Stimmungsluft - Waldabend, Meeresrauschen, wärmendes Sonnenlicht auf der Haut - und dann plötzlich ein Blick: nach der Kurve des Waldweges eine helle, neblige Lichtung, - von der Hügelkuppe ein weiter Blick über Felder und Seen - dieser eine Blick spricht uns an, bannt uns, läßt uns innehalten - dies ist eine körperliche Erinnerung und sie findet ihre Entsprechung in dem Wandeln in einer Ausstellung - von Anblick zu Anblick - von Ausblick zu Ausblick

In der Renaissance wurden verschiedene Maltechniken entwickelt, die alle eine räumliche, atmosphärische Tiefenwirkung erzeugten: das Verschwimmen der Konturen in der Ferne, das Heller- und Blauerwerden in der Tiefe des dargestellten Raumes aber auch ein neues, grundlegend anderes Bildverständnis, das sich in der Erforschung von und der Beschäftigung mit der Perspektive verdeutlicht.

 
   

(Über Perspektive ließe sich ohne Probleme ein komplettes Internetprojekt mit tausenden von Seiten und Querverbindungen herstellen oder ein mindestens dreibändiges, engbedrucktes, fettes Bücherwerk mit vielen Abbildungen. Im Laufe der Zeit wird es hier auf "elementmal" deshalb natürlich auch einen spezifischen Punkt "Perspektive" geben)

Die Perspektive als zeichnerische Grundlage eines Gemäldes sollte den Eindruck der Wirklichkeitsnähe oder der Raumvortäuschung verstärken. Das Grundprinzip findet sich in der Wortbedeutung: Perspektive als Durchblick! Zwischen dem zu malenden Anblick und dem Maler/Betrachter wird nämlich eine Fläche gedacht, oder manchmal wirklich gebracht (in Form von durchsichtigem Stoff) auf der sich alles so anfindet, daß es sich für den Maler/Betrachter mit der dahinterliegenden Wirklichkeit deckt. So als würde man ein Bild mit ausgestreckten Armen vor sich halten, auf dem genau das zu sehen ist, was dieses Bild verdeckt.

 
   

An diesem Modell, in dem die "Sehstrahlen" eine Projektionsfläche durchdringen und mit ihren Durchtrittspunkten darauf das perspektivische Abbild hinterlassen, wird deutlich, daß zwei wichtige "Konstanten" ins Spiel kommen: Einmal die Senkrechte und zum anderen die Waagerechte oder auch Horizontale. Und damit sind wir schon ganz nah an dem verbindenden Schnittpunkt des Blicks mit dem des körperlichen Blicks.

Der Horizont, den wir sehen, befindet sich nämlich immer genau auf unserer Augenhöhe, was leicht und ganz simpel zu überprüfen ist, wenn wir in die Knie gehen und uns wieder erheben und unseren Blick dabei auf den Horizont gerichtet halten, am besten in einer Umgebung wo es einen Vordergrund zum Vergleich gibt, zum Beispiel ein Fenster oder Bäume: Der Horizont hebt und senkt sich exakt mit unserer Bewegung.

Der Horizont ist also eine weitere "Wirklichkeitsprojektion": Wir meinen den Horizont draußen, ohne Beziehung von uns zu sehen, aber daß er dort und gerade in dieser Höhe ist, gilt nur für uns als Betrachter und nur für unsere eigene Körpergröße und Augenhöhe. Der Horizont ist also eine gesehene Verknüpfung unserer eigenen Körperlichkeit mit unserer selbstgeschaffenen "Wirklichkeit".

 

 
   

Die zweite Konstante ist natürlich die Senkrechte. In einer "normal" konstruierten perspektivischen Darstellung bleibt alles, was in der Wirklichkeit senkrecht ist wie Masten, Gebäudekanten, Fenster- und Türkanten auch auf der Darstellung senkrecht. Es gibt aber eine Linie, die noch eine zusätzliche Besonderheit aufweist, nämlich die sozusagen durchgängige Senkrechte, die ich als die Senkrechte bezeichne. Sie kommt zustande, wenn man sich zum Beispiel genau in die Flucht einer Mastreihe stellt, mit dem Effekt, daß sowohl die Masten (natürlich) senkrecht sind, als eben auch die Linie, auf der diese Masten stehen, für uns senkrecht erscheint - dies hat natürlich zur Folge, daß sich die einzelnen Masten überdecken und deren räumliche Anordnungen nur noch durch Schatten deutlich zu machen sind, die die Fußpunkte der Masten auf der Ebene bezeichnen.

Unser eigener Standpunkt, an dem wir uns auf der Ebene befinden, ist also in der Senkrechten enthalten: Nur dort, an diesem einen Punkt ist es möglich diese eine Mastreihe komplett in einer Senkrechten zu sehen und abzubilden und wie auf dem nebenstehenden Bild schön zu sehen ist, führt diese Linie dann direkt und gerade zu unserem Standpunkt, läuft ohne von der Senkrechten abzuweichen zwischen unseren Füßen hindurch.

 
   

Genau wie wir also unsere Wirklichkeit selbst herstellen, ist also auch in einer Ansicht, in einem Bild etwas von uns selbst enthalten: Der Horizont enthält / verkörpert unsere eigene Augenhöhe und die Senkrechte enthält / verkörpert unseren eigenen Standpunkt!

Diese beiden Konstanten ergeben miteinander ein rechtwinkliges Achsenkreuz, welches eben nicht durch eine verstandesgeleistete Abstraktion zustandekommt, sondern sichtbar in unserer Wirklichkeit vorhanden ist und selbst entdeckt und gesehen werden kann! (Eine ganz wundervoll klare Situation dafür ist die Spiegelung von Sonne oder Mond in Gewässern - die Lichtbahn des Mondlichts führt senkrecht vom Horizont auf uns zu, und egal wie wir uns bewegen, sie bleibt immer senkrecht und immer auf unseren Standpunkt ausgerichtet)

 

Diese Grundkonstanten sind mehr oder weniger offen oder versteckt auch in jedem Landschaftsbild enthalten; meist ist der Horizont sichtbar oder es ist auf dem Bild zeigbar wo er verläuft; die Senkrechte ist etwas kniffeliger: wenn sich gerade Linien im Bildthema finden (etwa Straßen, Feldränder, Architekturelemente), dann ist auch hier zeigbar, wo im Bild die Senkrechte verläuft. Denn meist wird die Senkrechte im Bild vermieden, weil sie von uns derart stark gesehen wird, daß sie alles andere dominiert und weil auf ihr keine Räumlichkeit zu schaffen ist.

 

 
   

Für fast alle Bilder gilt aber, daß diese beiden Konstanten immer auch ins schon nicht mehr wahrgenommene verschoben worden sind; wir machen uns beim Betrachten keine bewußten Gedanken mehr darüber, daß die Oberkante und Unterkante des Bildes auch die Horizontale verkörpern und der linke und rechte Bildrand die Senkrechte wiederaufnimmt. Ein Bild auf rechteckiger Malfläche trägt diese beiden landschaftsbestimmenden Elemente also schon immer mit sich und in sich und das schon, bevor der erste Strich überhaupt getan wurde!

Deshalb ist es auch möglich, mit nur einem Strich oder einem Pinselzug eine Landschaftsassoziation für uns zu erzeugen, wie nebenstehendes Beispiel verdeutlicht, in dem mit "breitem Pinsel" die "Himmelsfläche" einfach nur hell eingefärbt wurde und es so für uns möglich wird, sie als Himmel zu sehen.

Die Grundkonstanten Horizontale und Senkrechte treten also im Bild in zweifacher Form auf: Einmal in der rechteckigen Malfläche, was wir nicht mehr bewußt wahrnehmen, und im rechtwinkligen Achsenkreuz von Horizont und Senkrechte.

 
         
   

3.Teil -:- körperlicher Blick

Stehen wir vor einem Bild, das richtig an der Wand hängt und nicht an Schnüre gehängt nach vorne kippt, wird die Senkrechte "doppelt" senkrecht - sie weicht auf dem Bild nicht nach links und rechts ab und durch die senkrechte Wand auch nicht nach vorne und hinten - damit nimmt das Bild unseren eigenen Stand auf, es steht uns gegenüber. Diese Senkrechte im Raum ist allerdings von uns in die Vergessenhheit geschickt worden, wir nehmen sie nicht mehr richtig wahr - sie ist alltäglich geworden, für uns selbstverständlich... Dabei ist es doch diese Senkrechte, die es uns erst ermöglicht überhaupt zu stehen!

Beobachtet man kleine Kinder, wenn sie lernen zu stehen so ist ganz offensichtlich, daß sie intuitiv stehen wollen, aber erst die Senkrechte erfahren müssen - immer wieder fallen sie um, bis sich schließlich das Gefühl des Aufrechtseins im Körper festgeschrieben hat. Wir selbst erinnern uns wohl nicht mehr an diesen Vorgang des Stehenlernens - vielleicht aber noch ans Radfahrenlernen und die Probleme des Gleichgewichthaltens - erst wenn wir es schaffen genau in Übereinstimmung mit der Senkrechten zu sein fallen wir nicht um.

Die Erde hält uns und zieht uns auf gerader Linie zu ihrem Mittelpunkt - wir müssen nur diese Linie finden und können uns an ihr aufrichten und stehen - oder Bauwerke errichten! (Auch die Pflanzen nutzen und verkörpern natürlich die Senkrechte um in den Himmel zu wachsen)

Die Erde hat am Äquator einen Umfang von ungefähr 42000km und sie dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst; also bewegt man sich am Äquator durch die Erddrehung mit einer Geschwindigkeit von 1750 Stundenkilometern und selbst in unseren nördlichen Breiten ist man immer noch gut 1000km/h schnell. Stellt man sich vor in einem Karussell zu sein, das sich mit dieser Geschwindigkeit dreht, wird die Kraft deutlich, die dem entgegensteht - nämlich die Erdanziehungskraft. (Aber fühlt man sich also am Äquator leichter als am Südpol?)

Für die frühen Menschen muß das Bewußtsein über ihr Stehen, wahrgenommen aus einem körperlichen Gefühl heraus (ich bin aufrecht) unglaublich kraftvoll gewesen sein: Stehen, beide Hände frei benutzen zu können, und zu sehen, daß man den gleichen Erdgesetzen unterliegt wie der Stamm, den man aufrecht hinstellen will oder den Stein, den man aufrichtet. (Ein vierbeiniges Tier muß eine völlig andere Wahrnehmung von der Erdanziehungssenkrechten haben, denn selbst mit drei Beinen kann man immer noch das Umkippen in jegliche Richtung ausgleichen und muß eben nicht hinfallen!)

Aufrecht zu stehen und den Horizont zu erblicken ist also ein wichtiges Unterscheidungskriterium zwischen Mensch und Tier - und nicht umsonst ist eines der ältesten Zeichen und Symbole eben das Kreuz, das sich schon als Felszeichnung oder Ritzung vor Jahrzehntausenden finden läßt. Das Kreuz läßt sich nämlich durchaus als stilisierte Selbstbeschreibung des Menschen lesen: Aufrecht auf einer weiten Ebene, der Erde, zu stehen und diese bis zum Horizont zu überblicken - und dies bewußt zu tun! Sonst würde man es ja auch nicht in ein Zeichen "übersetzen"!

(Taktisch geschickt wurde deshalb das Kreuz, allerdings erst im Jahre 431 im Konzil von Ephesos, als christliches Symbol beschlossen - das Kreuz hatte eben einfach eine größere und bessere Verständlichkeit in anderen Kulturen als das frühere Fischzeichen oder das Christusmonogramm aus X und P für Christos - eine rasante Karriere für ein Symbol, tauchte das Kreuz doch erst nach dem Konzil von Nicaea im Jahre 325 in der christlichen Kunst auf!)

Wenn wir ein Bild betrachten schwingen also viele andere Faktoren mit, die eben zum Teil ins Unbewußte verlagert worden sind, die wir uns aber durchaus wieder vergegenwärtigen können: Der Stand unseres Körpers, die "Resonanz" unseres Stehens, aufgenommen im rechtwinkligen Bildformat mit Senkrechten und Horizontalen und die Verkörperung unseres Standes und Blickes im Horizont. Aber auch die körperliche Erinnerung an Wanderungen und Landschaftsanblicke, die in uns aufklingt, wenn wir ein Landschaftsgemälde betrachten - dies alles möchte ich, um es vom Modell des bloßen Sehens abzugrenzen, eben den "körperlichen Blick" oder den "körperlichen Landschaftsblick" nennen!

Eine weitere körperliche Komponente finden wir beim Wandeln durch eine Ausstellung: Wenn wir ein Bild aufmerksam betrachten wollen, stellen wir uns ihm direkt - rechtwinklig zur Malfläche -gegenüber; geradeso wie wir uns einer Person gegenüberstellen, wenn wir sie begrüßen oder mit ihr ein Gespräch führen. Das Bild wird zum körperlichen, persönlichen Gegenüber!

Wie das Sehen, weil es eben mit körperlicher Erfahrung verbunden ist, unsere Vorstellung und damit unsere selbstgeschaffene Wirklichkeit beeinflußt, mag ein abschließendes Beispiel illustrieren:

Wir sind es gewohnt uns in Räumen aufzuhalten, was ein ganz anderes Gefühl ist, als unter freiem Himmel zu stehen. Unsere Räume sind, weil sie den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind wie wir, mit ebenem Grund und senkrechten Wänden gebildet! Der freie Ausblick auf den Horizont ist in Räumen nicht mehr möglich - rechtwinklige Fenster erlauben uns nur einen kleinen Ausschnitt wahrzunehmen. Bilder an den Wänden versuchen diesen freien Blick zu ersetzen - entweder als "kleine Fenster", durch die wir vermeintlich einen Blick in die Tiefe eines nur gemalten Raumes zu werfen glauben, oder auch als Wandgemälde, was versucht, uns wahrzumachen, daß eben diese Wand nicht vorhanden ist, sondern sich dort ein Raum öffnet!

Der gemalte Horizont, die Trennlinie zwischen Himmel und Erde befindet sich nun für uns greifbar, betastbar im Raum und nicht mehr in weiter Ferne - die Wirkung, die sich dann für uns kulturgeschichtlich einprägte, ist (als Manifestation christlichen Gedankenguts), daß Himmel und Erde getrennt voneinander sind und sich der Himmel oben über uns befindet und wir Teil der Erde, irdisch sind. Der gemalte Horizont, an die senkrecht stehende Wand auf unsere Augenhöhe geholt, formt den Raum - und weil wir in einem Raum keinen Vergleich haben, kommt es zu einer Fehlinterpretation, die wir in unsere Form der Wirklichkeit übernehmen. Denn unstrittig ist, daß wir zwar auf der Erde stehen (und die Erde durch die Standsenkrechte und die Erdanziehung in uns spüren) - aber daß wir tatsächlich im Himmel stehen! Der Himmel geht nämlich bis hinab auf die Erdoberfläche - und ganz klar stecken wir ja auch nicht in der Erde, was unsere Bewegungen ziemlich einschränken würde - sondern können uns im luftigen Himmel frei bewegen!

Aber die richtige Formulierung "wir stehen im Himmel" und die damit anfänglich verbundene leichte Irritation zeigt deutlich, wie körperliche Wahrnehmung und Denken und Vorstellung unsere Formen bestimmen, mit denen wir unsere Wirklichkeit schaffen!

Den Unterschied dieser verschiedenen Sichtweisen / Wirklichkeiten kann jeder selbst erfahren und sich bewußt machen- viel Freude nächstesmal auf freiem Feld beim Stehen und Gehen im Himmel!